Unser Wirtschaftssystem basiert auf der Illusion der Möglichkeit eines grenzenlosen Wachstums, einer immer weiteren Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und eines stetig steigenden Wohlstands – und damit auf der Illusion, die Naturgesetze überwinden zu können.
In dieser Streitschrift legt Lothar Mayer dar, warum das Industriekapital die Lebenserhaltungssysteme des Planeten zerstören muss, und er skizziert eine Lösung, so visionär wie praxistauglich: die Einführung eines persönlichen CO2-Budgets, mit dem das Kapital neutralisiert und die Folgen der Klimakatastrophe abgeschwächt werden können.

Lothar Mayer Lothar Mayer, Jahrgang 1936, studierte Wirtschaftsgeschichte in München und Linguistik in Saarbrücken und Boston. Nach seinem Studium war er als Konferenzdolmetscher bei der EWG-Kommission in Brüssel tätig. Ab 1968 arbeitete er als freiberuflicher Konferenzdolmetscher bei internationalen Organisationen wie der EU, dem Europäisches Parlament oder der UNO, sowie bei technisch-wissenschaftlichen Konferenzen und internationalen Unternehmen.

Am Ende des 18. Jahrhunderts verband sich das Kapital symbiotisch mit den fossilen Brennstoffen und mutierte damit zu einer Massenvernichtungswaffe. Es erwarb in und mit der Industriellen Revolution die unbeschränkte Verfügung über die mineralischen und natürlichen Ressourcen des Planeten. Schon in der Frühzeit dieser Entwicklung im 19. Jahrhundert konnte man in den Midlands um Manchester und Liverpool seine Kreativität und gleichzeitig sein unerhörtes Zerstörungspotential für Mensch und Natur besichtigen.

Heute wütet das Industriekapital global, zu erkennen an der Dezimierung der Artenvielfalt, der Plastikvermüllung der Meere, der Vergiftung von Flüssen und Seen und einer Erwärmung der Erde, die zu einer für Menschen lebensfeindlichen Heißzeit führen könnte.

In seinem kurzen Marsch durch die Geschichte der Neuzeit hat sich das Industriekapital über die ganze Welt verbreitet, verbündete sich mit Wissenschaft und Technologie, Entdeckergeist und Gier, mit Demokratien und Diktaturen, ja, sogar mit dem Staatssozialismus eines großen Landes. Indem es sich schrankenlos bei den fossilen Energieträgern bediente, um Naturvermögen und lebenserhaltende Systeme zu verwerten und in Konsumgüter und Dienstleistungen zu verwandeln, konnte es den größten Teil der Menschheit in seinen Bann ziehen: Um ungehindert seinen dunklen Machenschaften nachgehen zu können, überschüttete es sie mit einer nie dagewesenen Menge und Vielfalt von materiellen Gütern und Annehmlichkeiten.

Wenn wir dieses ebenso verführerische wie verhängnisvolle System in seine Schranken weisen wollen, liegt die geeignete Strategie auf der Hand. Genau an der Stelle, an der es sich zu Beginn der Industriellen Revolution den Zugriff auf die natürlichen und mineralischen Ressourcen des Planeten aneignete, muss es von seinen Nahrungsquellen abgeschnitten werden. Die einfachste und wirkungsvollste Vorgehensweise, das zu erreichen, besteht darin, den Zugriff auf die Ressourcen mengenmäßig zu begrenzen und nur im Tausch gegen entsprechende Ressourcenguthaben zu erlauben. In einem ersten Schritt ließen sich dafür CO2-Emissionsguthaben einsetzen. Diese sind erstens relativ einfach abzuleiten und belastbar zu begründen, und zweitens greifen sie unmittelbar retardierend in den bedrohlichsten, vom Kapital betriebenen Veränderungsprozess, nämlich die Erderwärmung, ein.

Die CO2-Guthaben nicht den Produzenten, sondern den Konsumenten zugeteilt. Das hat den großen Vorteil, dass sie ganz marktwirtschaftlich über die Nachfrage wirksam werden. Das heißt, dass die Bürger als Konsumenten entscheiden können, was wie und wo produziert wird.

Die Einführung eines persönlichen CO2-Kontingents, das sich im Lauf von 20 Jahren von elf Tonnen pro Kopf auf Null reduziert, hat den unschätzbaren Vorteil, dass die Konsumenten „nur einmal gut zu sein“ brauchen – und dann geht alles seinen Gang in die richtige Richtung (im Gegensatz zu den Hunderten von Gesetzen und Verordnungen, die gegen den übermächtigen Widerstand des Kapitals und seiner Interessenvertreter in Wirtschaft und Parlament durchgesetzt werden müssen und dann, durch die Einwände und „Verbesserungsvorschläge“ der Interessengruppen verwässert, nur noch als Karikatur der ursprünglich geplanten Maßnahme in Kraft treten.

Die jährliche Reduzierung des persönlichen CO2-Budgets um 5 Prozent, um am Ende der anvisierten 20 Jahre das Einsparziel zu erreichen, ist bereits ziemlich einschneidend und wird sehr schnell auch wehtun. Ein so rabiater Eingriff ist nötig, weil wir vierzig Jahre lang immer nur vom Klimawandel geredet, aber fast nichts unternommen haben, um ihn zu stoppen. Er ist dadurch zu rechtfertigen, dass das Klima nach den wichtigsten Parametern auf des Messers Schneide steht (vgl. A 36).

Fünf Prozent Reduzierung des CO2-Guthabens muss sich nicht zwangsläufig in fünf Prozent weniger Wohlstand ausdrücken, weil in den ersten Jahren noch so viel Überflüssiges existiert, dass das Aufgeben dessen eher Erleichterung verschafft. In den folgenden Jahren schlagen dann die Einsparungen und Effizienzverbesserungen, das Verschwinden unnötiger Konkurrenzprodukte, die sich kaum voneinander unterscheiden, und die klimaschonenden Innovationen abfedernd zu Buch. Gleichzeitig darf man nicht erwarten, dass der materielle Wohlstand mit all den Annehmlichkeiten, die wir heute genießen, in dieser Form bestehen bleibt. Wohlstand, oder besser Wohlfahrt, wird sich eher darin ausdrücken, dass wir gemächlicher leben als heute und Zeit für unsere Partner und unsere Freunde, unsere Kinder und Enkelkinder haben und diese gewonnene Lebenszeit mit einem ruhigeren Gewissen genießen können.

Die Nachhaltigkeitsrevolution wird die friedlichste Revolution sein, die die Menschheit je erlebt hat. Das Kapital kann so lange bestehen bleiben, wie es will, aber die Begrenzung der CO2-Emissionen sorgt lautlos dafür, dass es nicht mehr ungestört seinen Verwertungs- und Verwüstungs-Algorithmus ausspielen kann. Wer als Unternehmer nicht nachhaltig oder nichts Nachhaltiges produzieren kann, soll sein Geschäft einfach einstellen. Seine Produkte werden ohnehin in zehn oder 15 Jahren, wenn die CO2-Budgets merklich schrumpfen, kaum noch Käufer finden und nach 20 Jahren CO2-Wirtschaft gar keine mehr. Aber der Unternehmer kann sich auf die Schulter klopfen, denn er leistet durch seinen Verzicht einen nachhaltigen Beitrag zum Gelingen des Projekts.

Kein Mensch und auch kein Wirtschaftswissenschaftler kann vorhersagen, was genau bei einer Begrenzung der CO2-Emissionen geschehen würde. Aber wir müssen uns entscheiden. Wollen wir zulassen, dass das Kapital weiterhin unsere Biosphäre durch den Fleischwolf der Verwertung dreht, oder wollen wir das Kapital so weit entmächtigen, dass es das nicht mehr kann? Wenn wir diesen Weg beschreiten – und das können wir nur, wenn wir eine kritische Masse von Menschen hinter dem CO2-Budget versammeln können – , müssen wir uns auch fragen, ob wir bereit sind, auf drei oder vier Fünftel unserer materiellen Güter und viele Annehmlichkeiten des modernen Lebens zu verzichten. Der Preis scheint nicht zu hoch, wenn wir damit eine Biosphäre – wahrscheinlich die einzige, die es gibt – vor der Verwüstung bewahren können.

Regierung und Parlament haben nicht den Mut, die Wahrheit zu sagen oder ihr auch nur ins Gesicht zu schauen. Sie weigern sich, anzuerkennen, dass selbst bei Überschreitung der 1,5-Grad-Marke ein Absturz in eine Heißzeit eintreten könnte, und dass daher radikale Veränderungen notwendig sind – jetzt. Es scheint, dass nur noch der Druck von der Straße den verschlafenen Apparat bewegen kann. Glücklicherweise hat er mit den Schülerprotesten begonnen. Jetzt sind die Erwachsenen aufgerufen, den Druck zu verdoppeln, zu vervierfachen, zu verzehnfachen, und nicht mehr aufzuhören, bis endlich etwas geschieht.

Beim Fridays-for-Future-Sommerkongress im August 2019 wollte Prof. Christoph Schmidt vom Sachverständigenrat Wirtschaft den jungen Leuten einen väterlichen, vielleicht auch eher großväterlichen Rat zur Mäßigung geben, indem er sagte: „Das Machbare mit dem Wünschenswerten zu verbinden, das wäre das Ideale“. Die Jungen sind offenbar näher an der Realität. „Nicht das ,Machbare’ und nicht das ,Wünschbare’“, sagte darauf Carla Reemtsma von Fridays for Future, „sondern das Notwendige“. Man kann nur hoffen, dass sie sich diesen klaren Blick auf die Realität nicht abkaufen lassen.